Gastbeitrag Tagesanzeiger: Verschwörungstheorien

*Ungekürzte Fassung des im Tagesanzeiger vom 14. März erschienenen Gastkommentars – von Dominic Pugatsch, ehemaliger Geschäftsleiter der GRA

Antisemitische Verschwörungstheorien halten sich erschreckend hartnäckig in der Schweizer Öffentlichkeit. So veröffentlichte der Tages-Anzeiger kürzlich einen Leserbrief, in dem es hiess: «Es ist schon erstaunlich, wie es die Juden verstehen, die Schweizer Medien für ihre Anliegen zu instrumentalisieren.» Und weiter: «Aber auch international ist festzustellen, dass die erwähnte Berichterstattung einen übertrieben prominenten Platz in den Medien eingenommen hat.»

Der nur wenige Tage zuvor erschienene jährliche Antisemitismusbericht der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) und des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) sowie die mediale Berichterstattung darüber scheinen den Leserberief-Autor dazu veranlasst haben, sich solcher zutiefst antisemitischer Narrative zu bedienen.

Zuerst einmal: Eine Verschwörungstheorie versucht einen Sachverhalt durch eine Verschwörung zu erklären, also durch das zielgerichtete, «konspirative» Wirken einer meist kleinen Gruppe und zwar in deren Eigeninteresse. In der Logik der Verschwörungstheoretiker schadet diese Gruppe insgeheim der Gesellschaft.

Wie etwa beim «Othering» des Rassismus, handelt es sich auch hier um ein rein soziales Fantasie-Konstrukt. «Othering» heisst dabei, jemand «anderen» als andersartig oder «fremd» zu klassifizieren. Diese Unterscheidung fusst auf hierarchischem und stereotypem Denken. Während die eigene «Normalität» bestätigt und aufgewertet wird, werden die «Anderen» – hier mittels Verschwörungsfantasien – beschuldigt und herabgewürdigt.

Verschwörungstheorien werden also nicht deshalb geglaubt, weil sie rational oder empirisch überzeugend wären, sondern weil sie dazu beitragen, das eigene Weltbild zu festigen. Die so befriedigende Wut gegen «die Anderen», die Unterscheidung zwischen Freund und Feind hat eine berauschend-identitätsstiftende Wirkung.

Eine weitere Funktion von Verschwörungstheorien liegt in der Komplexitätsreduktion. Die Komplexität moderner Gesellschaften und ihrer Prozesse wird auf einfache Erklärungen verkürzt. Dies vermittelt Orientierung und damit einhergehend ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit.

Auch der Verfasser des Leserbriefes formt sich sein eigenes Weltbild, indem er Pseudo-Belege vorlegt und Zusammenhänge vereinfacht darstellt. Der Leserbrief nimmt ein uraltes Muster auf: Der Schlüssel zur Wahrheit scheint gefunden und wieder müssen die Jüdinnen und Juden herhalten. Dies definiert den Antisemitismus: Er baut auf Vorstellungen über «die Juden» auf und funktioniert vor allem in der Erscheinungsform von Verschwörungsfantasien – und zwar unabhängig vom tatsächlichen Verhalten jüdischer Menschen. Er ist eine Projektion derjenigen, die antisemitisch eingestellt sind.

Leider zeigt die Geschichte, dass Verschwörungsfantasien immer dann verbreitet werden, wenn weitreichende ökonomische oder politische Veränderungen anstehen. Antijüdische Verschwörungstheorien sind bekannt, seit im Mittelalter die Pest grassierte und Jüdinnen und Juden als Sündenböcke herhalten mussten. Die nach dem Ende des 1. Weltkrieges in der Weimarer Republik kursierende Dolchstosslegende ist ein weiteres Paradebeispiel einer Verschwörungstheorie. Sie verband die «Zersetzung der vaterländischen Moral von Innen» mit der Propaganda der Nationalsozialisten. Schuld war das «internationale Judentum».

Verschwörungsfantasien können somit als gefährlich eingestuft werden, wenn Stigmatisierung, Verunglimpfung und schliesslich Gewalt in Kauf genommen werden, um die eigene Position zu stärken und (politische) Gegner abzuwerten. Auch die Verschwörungstheorie der «Lügenpresse» fällt übrigens in diese Kategorie, und auch in diese Falle tappt der Autor des Lesebriefs mit seinen weiteren Anschuldigungen. Dabei hat gerade der diesjährige Antisemitismusbericht Verschwörungstheorien zu seinem Schwerpunktthema gemacht. Dies, weil Verschwörungstheorien die demokratische Gesellschaft unterwandern und nur den Interessen derjenigen dienen, die sie verbreiten.

Was kann man dagegen tun? Wissen und Fakten parat haben! Wissen, um solche Fantasie-Konstrukte zu erkennen und Fakten, um sie zu entlarven. Zum Schluss noch eine Prognose: Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis das Coronavirus einer zionistischen Weltverschwörung zugeschrieben wird. Es wäre schön, Sie würden dann, wenn sie davon hören, nicht schweigen, sondern inhaltlich dagegen antreten. Danke.

 

Die neue GRA Einschätzung «Rassismus in der Schweiz 2022» ist hier

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