Balkanisierung

Balkanisierung bezeichnete ursprünglich die Zersplitterung von Südosteuropa in rivalisierende nationalistische Kleinstaaten nach dem Abschütteln der osmanischen Herrschaft (zwischen 1804 und 1913) und nach dem Zerfall des österreichisch-ungarischen Reichs (1918). Mit der Zeit verselbständigte sich Balkanisierung zu einem allgemeinen politisch-polemischen Begriff, der jede Art von (unerwünschter) Zersplitterung meint.

1808 prägte der junge Berliner Geograf Johann August Zeune die Bezeichnung «Balkanhalbinsel». In der Vorstellungswelt der Romantik verhaftet, glaubte er an einen einheitlichen geografisch-historisch-kulturellen Raum von den Slowenischen Alpen bis zum Schwarzen Meer, vergleichbar mit der appeninischen und der iberischen Halbinsel. Noch im 19. Jahrhundert erkannte die Wissenschaft, dass diese vermeintliche Einheit ein Irrtum war. Deshalb wird dieser Teil Europas heute häufig auch als Südosteuropa bezeichnet. Genau genommen ist der Balkan (türkisch für «Gebirge») nur gerade der 600 km lange Gebirgszug, der sich wie eine Mittelachse durch Bulgarien zieht.

Unbeeinflusst von den geografischen Erkenntnissen haben sich in der politischen Diskussion Europas im 19. und 20. Jahrhundert die Begriffe «Balkanländer» und «Balkanvölker» selbstständig gemacht und verfestigt. Balkanvölker bezeichnet als Sammelbegriff alle Volksgruppen, die im Raum zwischen Slowenien, dem Schwarzen Meer und dem Ägäischen Meer leben. Der Begriff Balkanländer umfasste geografisch Jugoslawien (respektive die heutigen Nachfolgestaaten auf dem gleichen Territorium), Bulgarien, Rumänien, Albanien, Griechenland und den europäischen Teil der Türkei. Heute leben auf diesem südosteuropäischen Gebiet etwa 75 Millionen Menschen.

Eng mit der Vorstellung der Balkanvölker verknüpft ist der Begriff Balkanisierung. Balkanisierung ist quasi der negative Schatten der Balkanvölker. Im 19. Jahrhundert gehörte ein grosser Teil Südosteuropas zum osmanischen Reich; westlich davon herrschte bis 1918 die Donaumonarchie Österreich-Ungarn. Die europäischen Mächte begleiteten mit Sympathie und offener Unterstützung die nationalistischen Aufstandsbewegungen christlicher «Balkanvölker» gegen die zerfallende türkische Herrschaft. Diese Entwicklung begann mit dem ersten serbischen Aufstand von 1804 und endete 1912/13 mit den beiden Balkankriegen, nach denen das osmanische Reich in Europa auf den kleinen Rest zurückgedrängt war, der heute noch zur Türkei gehört.

Die Kehrseite der nationalen Ideologie, die Triebkraft der Unabhängigkeitskämpfe gewesen war, zeigte sich bald nach dem Abschütteln der osmanischen Vorherrschaft: Die neuen Kleinstaaten kämpften schon bald gegeneinander um Territorien und Volksgruppen. Da Südosteuropa ethnisch sehr vielfältig und kleinräumig gemischt war, gab es in jedem neuen Staat ethnische Minderheiten aus Nachbarstaaten. Und stets machten sich die nationalistisch gesinnten Regierungen zur Anwaltschaft der «unterdrückten Brüder» im Nachbarland. Die Mehrheitsbevölkerung misstraute deshalb den nationalen Minderheiten. Die Folge war eine zum Teil brutale Vertreibung von Minderheiten über die Grenzen hinweg. Was später in den Jugoslawienkriegen der 1990er-Jahre als «ethnische Säuberungen» berüchtigt wurde, war schon vor 1900 in Südosteuropa gängige Praxis. Nach dem Ersten Weltkrieg zerfiel 1918 die Donaumonarchie in Nationalstaaten, und das, was bereits Balkanisierung genannt wurde, setzte sich auch auf deren Territorien fort. Heute wird Balkanisierung oft für jede Art von politischer und territorialer Zersplitterung gebraucht – losgelöst vom geografischen Raum und meistens mit einer negativen Einfärbung.

Siehe auch den Eintrag Säuberung.

© GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, 2015

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